Erencan

Text: Çağla Bulut

Foto: Emanuel Kaser

Kematen, März 2024

Erencan (sprich: Erendschan) hat in seinen Schuljahren die Hölle und das Paradies erlebt und lässt sich heute von nichts mehr so leicht unterkriegen, ganz nach dem Motto “It is what it is”. Ein besonderer Mensch hat ihn in diesen Jahren inspiriert und unterstützt, dem er bis heute viel zu verdanken hat.


Letztes Jahr hat Erencan seinen Wehrdienst abgeleistet und macht aktuell eine Ausbildung zum Techniker in einem Lichtstudio. Die Arbeit bereitet ihm viel Freude, da er viel mitgestalten kann und neue coole Designs ausprobieren kann, doch der Weg dahin war alles andere als einfach. Als Jugendlicher an der HTL war er motiviert, Architekt zu werden, der “Ted Mosby Effekt” hätte auch bei ihm nicht Halt gemacht und so schürte er Träume, eines Tages in New York zu landen und dort zu arbeiten. Doch als seine Englisch-Lehrerin, die zusätzlich Geschichte unterrichtete, seinen ersten Fünfer einträgt - den er mehr auf eine persönliche Abneigung gegen ihn zurückführt als auf seine Kompetenzen - beginnt sein Traum Schritt für Schritt zu zerplatzen.

Er bleibt sitzen, muss die zweite Klasse wiederholen und sich von den neuen Lehrer:innen eine hoffnungslose und pessimistische Einstellung gegenüber ihm und den anderen Repetent:innen gefallen lassen. Er verliert zunehmend die Motivation und den Spaß an der Schule, der Architektur und seinem Traum und beginnt regelmäßig den Unterricht zu schwänzen. In der dritten Klasse macht sich das Resultat seiner fehlenden Motivation und den fehlenden unentschuldigten Stunden ein weiteres Mal sichtbar: Er muss eine weitere Ehrenrunde drehen. Aber diese soll völlig anders werden.

Er ist der Grund, warum wir weitergemacht haben und nicht aufgegeben haben.
– Erencan über seinen früheren Lehrer

Der neue Klassenvorstand, ein junger, überaus cooler Mathematiklehrer, der die Sprache der Schüler:innen spricht, nimmt alle Repetent:innen mit offenen Armen auf und gibt sein Bestes, sie wieder für die Schule zurückzugewinnen. Erencan erinnert sich nostalgisch zurück: “Er ist der Grund, warum wir weitergemacht haben und nicht aufgegeben haben.” Sein Unterricht sei ein Mix zwischen verständlichen Erklärungen komplexer mathematischer Formeln und Freestyle Rap Battles zwischen ihm und den Schüler:innen gewesen.


Alle Schüler:innen, die die Klasse bei seinem Klassenvorstand wiederholt hatten, haben die Schule geschafft und die Matura erfolgreich absolviert. Sein Klassenvorstand konnte das aber leider nicht mehr miterleben. Im Sommer vor dem Abschlussjahr ist er bei einem tragischen Bergunfall ums Leben gekommen. Erencan erinnert sich gut an die Beerdigung, alle seine Schüler:innen waren da, alle haben geweint. Auch er das erste Mal nach vielen Jahren.


Heute ist er wahnsinnig dankbar, zweimal sitzen geblieben zu sein, denn nur so hatte er die Möglichkeit, seinem Klassenvorstand, “dem coolsten Lehrer überhaupt” zu begegnen. Zudem hätte ihm das Wiederholen der Klassen einen weiteren Vorteil gebracht: die vielen neuen Klassenkamerad:innen wurden zu Freund:innen, mit denen er noch heute verbunden ist.

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