Nina

Text: Leonie Werus

Foto: Max Schorch

Innsbruck, April 2024

Warum ein ganzes Stück weniger Oberflächlichkeit uns allen guttun würde und wie soziale Ungleichheit nach wie vor unsere Gesellschaft prägt.


Wie oft am Tag wir wohl die Frage nach dem eigenen Befinden beantworten? Ganz einfach: Genauso häufig wie wir sie selbst stellen. Immerhin ist es gesellschaftlich so üblich, den Ball sofort zurückzuspielen. Das Gegenüber hat ja sicherlich Besseres zu tun als sich nach einem belanglosen „Wie geht’s dir?“ anzuhören, was einen aktuell tatsächlich beschäftigt. Als höchst problematische Entwicklung unserer Gesellschaft sieht Nina derartige Höflichkeitsnormen. Offenheit und Empathie sind die Werte, die ihr wichtig sind: „Vielen Menschen würde es besser gehen, wenn sie sich ihrem Umfeld gleich öffnen könnten, und nicht erst dann, wenn eine tiefe Freundschaft entstanden ist.“ Mit mehr Bewusstsein für das, was für gewöhnlich im Verborgenen, unter der Oberfläche bleibt, könnte unsere gesellschaftliche Normalität zu einer besseren werden, ist Nina überzeugt. Vor drei Jahren ist sie aus Hamburg nach Innsbruck gezogen, hat mit dem Psychologie-Studium begonnen und sich damit einen lang ersehnten Traum verwirklicht, wie sie anfangs glaubte. In der Realität hat der Studiengang ihre Erwartungen in Hinblick auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise verfehlt – und so inskribierte Nina ergänzend für Soziologie. Aktuell arbeitet sie an ihrer Bachelorarbeit über die Problematik weiblicher Schönheitsideale: „Dieser westlich geprägte Stereotyp der weißen schlanken Frau ist zwar noch immer in den meisten Teilen der Welt fest gesellschaftlich verankert, doch er verändert sich zunehmend. Filme oder Serien zeigen besonders deutlich, dass sich da etwas tut hinsichtlich mehr Diversität. Und das ist auch gut so.“

Handarbeit hilft Nina, das Gedankenkarussel abzuschalten und zur Ruhe zu kommen.

Aufmerksam machen möchte Nina darüber hinaus auf soziale Ungleichheit – und wie präsent sie nach wie vor ist. Besonders deutlich ist ihr das in fremden Ländern klar geworden, kürzlich hat sie zwei Monate in Sri Lanka verbracht und erkannt, wie romantisiert unser Bild vom Reisen doch ist: „Wir denken, wir entdecken die Welt, lernen neue Kulturen kennen – und bleiben letztlich doch in unserer Touristenbubble, die alles außer authentisch ist. Nicht selten leben die Menschen in beliebten Reisedestinationen an der Armutsgrenze, während die Tourist:innen vor deren Augen Avocadotoast und Iced Latte ordern.“ Abschalten lässt sich ihr Gedankenkarussell beim Handarbeiten, vor zwei Jahren hat sie Nadel und Faden für sich entdeckt. Stricken und Häkeln sind ihre Form von Kreativität, von Selbstausdruck und Slow Fashion. Dabei zählt der Prozess vielmehr als das Ergebnis, wenn sie Kleidungsstücke strickt, von denen jedes ein einzigartiges ist.

So viel, wie auch schief laufen mag in unserer Welt – die Hoffnung hat Nina noch längst nicht verloren. Ihre Zukunft lässt sie auf sich zukommen, versucht einen Beitrag zu leisten und ihren Weg zu gehen, der sie langfristig wohl wieder zurück in die Großstadt führen wird. Bis dahin genießt sie Innsbruck, die Natur samt der Berge – und zu hören, wie es ihren Mitmenschen wirklich geht.

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